18.10.2018

Reutlinger General-Anzeiger

Im Radball-Probetraining ist schnell klar, dass diese Sportart mit gewöhnlichem Radeln nicht viel zu tun hat

REUTLINGEN. Der Ball liegt frei vor dem Tor. Mit dem Fuß würde ich ihn als langjähriger Fußballer ohne Mühe versenken. Mit einem Fahrrad verkompliziert sich die Sache allerdings ganz gewaltig. Doch genau darum geht es beim Radball. Weder die Füße noch irgendein anderes Körperteil dürfen zum Schießen benutzt werden, erklärt mir Volker Wischett, Abteilungsleiter des 1. RMC Reutlingen, noch nicht einmal der Boden darf berührt werden. Es ist keine Überraschung, dass ich beim ersten Schussversuch fast vom Rad falle.

»Du musst eine Wischbewegung wie beim Eishockey machen«, erklärt mir Volker, der seit 28 Jahren Radball spielt und das Jugendtraining leitet, in dem ich reinschnuppern darf. Diese Bewegung hinzubekommen ist nicht einfach – nicht nur für mich. »Ich habe rund eineinhalb Jahre gebraucht, bis ich richtig schießen konnte«, erzählt der 14 Jahre alte Leon Geiselhart. Das ist der Grund, warum die meisten schnell wieder aufgeben und Radball eine absolute Randsportart ist.

Lediglich 20 aktive Spieler gibt es in Reutlingen, obwohl Radball in der Achalmstadt eine lange Tradition hat. Bereits seit 1925 wird die Sportart beim 1. RMC betrieben. Besonders erfolgreich Anfang der 60er-Jahre, als der Verein als einziger mit zwei Radball-Mannschaften in der Bundesliga vertreten war. Aktuell spielt die erste Mannschaft in der Landesliga und hat die vergangene Saison auf Platz vier abgeschlossen.

Gefährlicher Schwerpunkt

Während sich Leon und die anderen Jugendspieler des 1. RMC mit Koordinations- und Geschicklichkeitsübungen auf ihren Rädern warm machen, versuche ich mich mit dem ungewohnten Sportgerät vertraut zu machen. Das Anfahren klappt zwar, aber es wackelt so sehr, dass ich mir kurzzeitig Stützräder zurückwünsche. Der Sattel ist sehr weit hinten angebracht, sodass auch der Schwerpunkt gefährlich weit nach hinten verlagert ist. »Beim Radball sitzt man normalerweise auch nicht«, weist mich Volker gleich zurecht. »Im Stehen ist man viel agiler.« Ich bin zunächst einmal viel instabiler.

Das nächste Problem: Es gibt keine Bremsen. »Einfach in die andere Richtung treten«, erklärt mir Volker. Die direkte Übersetzung der Kette macht auch möglich, dass man Rückwärtsfahren oder sogar auf der Stelle stehen bleiben kann. Davon bin ich noch einige Trainingseinheiten entfernt. Aber langsam gewöhne ich mich immerhin ans Vorwärtsfahren, es wackelt weniger.

Selbstversuch: Kampf mit dem Gleichgewicht beim Radball

Nun steht endlich Schießen auf dem Plan. Nach meinem missglückten ersten Versuch übe ich erst einmal die notwendige Wischtechnik. Den ruhenden Ball erwische ich bald schon ganz gut, sodass ich mich ins Torschusstraining einreihen darf. Einer nach dem anderen versenkt die Bälle, die Volker den Schützen zurollt. Für mich ein Ding der Unmöglichkeit. Runde um Runde versuche ich, den Ball auch nur irgendwie zu berühren. Entweder verfehle ich ihn komplett oder ich touchiere ihn ganz leicht. Manche meiner Versuche kullern zufällig in die Nähe des Tores. Volker lobt mich fast schon überschwänglich, wenn ich die Bewegung halbwegs korrekt ausführe.

Zum Ende des Trainings steht für mich der große Moment an: Ich darf beim Abschlussspiel ran. Bei der meistverbreiteten Art des Radballs setzt sich eine Mannschaft aus Feldspieler und Torwart zusammen, wobei die Positionen im Spiel gewechselt werden können. Im Angriff agieren beide gemeinsam, in der Defensive verteidigt ein Spieler im Feld, während der andere als Torwart im Torraum agiert.

Leon hat das Pech in einer Mannschaft mit mir spielen zu müssen. Denn ich irre orientierungslos auf dem Spielfeld umher. Mit dem Wendekreis eines Lkw schaffe ich es nicht, dem Ball oder den Gegnern hinterherzukommen, die Pässe von Leon rutschen mir immer wieder zwischen Vorder- und Hinterrad durch, und selbst als unsere Gegner mir den Ball bereitwillig überlassen, wackele ich auf dem Rad wie ein Zitteraal und vertändele dabei das Spielgerät umgehend wieder.

Überraschendes Erfolgserlebnis

Als ich das Feld ver- und den Spielern der ersten und zweiten Mannschaft überlasse, zeigen mir diese, was im Radball alles möglich ist. Übersteiger, Trick-Schüsse mit dem Hinterrad aber auch harte Zweikämpfe gehören dazu. Die Torhüter stehen freihändig auf der Linie, um die Geschosse abzuwehren. »Bis zu 90 km/h kann so ein Ball schnell werden, wenn wir ihn richtig treffen«, erklärt mir Volker. Ich bin beeindruckt, wie spektakulär dieser Sport doch ist, wenn man ihn richtig beherrscht. Um es wie Trainingsgast Stefan Mannes aus Oberesslingen in die Bundesliga schaffen zu können, hätte ich schon früher mit Radball beginnen müssen. Sechs bis sieben Jahre sei das perfekte Einstiegsalter erklärt mir Abteilungsleiter Volker, der sich wie fast alle seine Kollegen Sorgen um den Radball-Nachwuchs macht.

Ich habe mein großes Erfolgserlebnis erst nach dem Probetraining. Für ein Foto schwinge ich mich noch einmal aufs Rad, um aufs Tor zu schießen. Nach mehreren Luftlöchern treffe ich den ruhig daliegenden Ball. In Zeitlupe rollt er Richtung Tor und überquert zu meiner Überraschung die Torlinie. Doof nur, dass dieses Ereignis nicht auf Video dokumentiert ist.